Fazit: China
Nachdem ich in dem Land durch die massive Blockade meiner Kommunikation 2 Monate extrem gelitten habe (siehe dazu meinen ersten Blogeintrag vom Oktober 2013), mag nachvollziehbar sein, daß ich dem Treiben der Menschen - auch ganz im Allgemeinen - inzwischen ziemlich kritisch gegenüberstehe. Am Anfang dachte ich, daß mir in dem Land, das mir in vieler Hinsicht Begeisterung abrang, einfach vereinzelte wildgewordene Hacker gegenüberstanden, die sich auf mich eingeschossen hatten - weil ich in irgendwelchen Rasterlisten aufgeschlagen war oder der Himmel wird wissen, warum sonst. Die Menschen auf den Straßen waren überwiegend freundlich - viel freundlicher, als man das einem Fremden gegenüber in Europa sein würde. Die Infrastruktur, soweit wir sie zu nutzen hatten, funktionierte erstaunlich gut und zuverlässig und von marginalen Erscheinungen abgesehen, wurden wir auch lange nicht übers Ohr gehauen. In dem Maße jedoch, wie wir in der 2. Hälfte unserer Reise 2013 aus den abgelegenen Ecken der Provinz Ganzu in die Großstädte und an die Touristenorte zurück kamen, lernten wir die Chinesischen Menschen von einer zweiten Seite kennen.
In ganz Asien träumen die Menschen: von leicht zu erreichendem Wohlstand, von den Touristen, die alle superreich sind und sie in ihr Land einladen oder zumindest für eine Dienstleistung viel Geld bezahlen können und deshalb auch ohne ethische Bedenken übers Ohr gehauen werden - das alles ist nicht China-spezifisch, im Gegenteil: kein Einziger hier wollte mich oder uns als Vehikel nach Europa nutzen oder erwartete ein besseres Leben von uns. Den Traum vom Wohlstand träumen die Chinesen auch - aber sie verfolgen ihn anders. Ich kenne bislang kein Volk, das so robust, unverwüstlich, tüchtig und leistungsfähig ist wie diese Volksgruppe. Und weil das so ist, kann man diesen Menschen, wenn man sie beobachtet, den Wohlstand auch nur wünschen. Und viele Menschen dieses Volkes haben einen Berufsethos, der ihnen Betrügereien oder maßlose Abzocke schlicht verbietet - die Taxifahrer gehören in der Regel dazu (wenn sie keiner Taximafia angehören), aber auch viele viele einfache Wirte in den kleinen Restaurants und Garküchen an den Strassen, bei denen wir gegessen haben. Wie viele Menschen habe ich auf den Straßen angehalten und nach dem Weg gefragt - sicher jeder 3. kam ein Stück weg mit mir mit, wenn er verstanden hatte, was ich suche: In Europa undenkbar. Ein Haufen Vorurteile haben sich als unhaltbar erwiesen, die aber als Klischees bei uns mächtig gepflegt werden. Darunter dieses, China solle (warum auch immer), könne (sprachlich) oder dürfe (Restriktionen) nicht individuell und unabhängig bereist werden. Tatsächlich denke ich inzwischen, daß die Forderung der Regierung, beim Visaantrag bereits die vorgebuchten Hotels vorzulegen (man kann aber von der Route abweichen), eine ungemeine Erleichterung ist, die vor allem in der Anfangszeit einer Reise viel Kräfte sparen kann, die man für das Reisen brauchen kann, gerade wenn man die Sprache nicht spricht. (Nicht alle Hotels dürfen Touristen aufnehmen, das kann die Suche dann schwierig gestalten, wenn man jenseits der Lonely Planet - Pfade unterwegs ist). Die Preise, die wir über das Internet bekamen, waren im Übrigen meist nur 40-50% des im Hotel ausgeschilderten Preises, der auch bei spontanem Erscheinen nur noch wenig unterboten wird - wenn kein Feiertag ist.
Im Land wird eine intensive Überwachung gepflegt: Hotels müssen Touristen bei der Polizei anmelden. Zugtickets und manche Bustickets gibt es für alle nur gegen Ausweis, dessen ID eingespeichert wird. Auf den Straßen überprüfen die Überwachungskameras weniger die Geschwindigkeit, als vielmehr, wer im Auto sitzt - da wird umfangreich fotografiert: Jede Mautstation, jede Ausfallstraße. In U-Bahnstationen werden die Rolltreppen so gefilmt, daß jeder identifizierbar ist, Busse haben mehrere Kameras in den Fahrgastraum gerichtet. Bei der Einreise muß der Tourist in die Kamera lächeln: China möchte doch gerne ein Foto neuesten Datums von seinen Gästen. Nun gut - ich muss sagen: dagegen ist vom Standpunkt der Individualreisenden nicht unbedingt etwas einzuwenden - solange man in dem Land nicht leben muß, sondern nur als Gast herum reist. Womöglich kann man in einem Ernstfall schneller identifiziert werden und der eigenen Sicherheitslage dient es allemal. Anders als in Europa ist mir als unbescholtener Fremder hier Polizei und Sicherheitspersonal ausgesprochen freundlich und hilfsbereit entgegen gekommen: Man kann sich als Fremder hier erst mal sicher fühlen, auch wenn man das hinsichtlich des bleibenden Besitzes des eigenen Geldbeutels nicht unbedingt so konstatieren kann, denn in den Großstädten scheint es von Dieben zu wimmeln. Verschiedene Szenen, die ich beobachtet habe, deuten darauf hin, daß es sich zum Einen um Profis, zum anderen um Menschen aus der einfachen Landbevölkerung handelt, die es in die Städte verschlagen hat. Aber gut - muß man halt auf den eigenen Krimskrams aufpassen.
Zurück zum Chinesischen Traum - oder der chinesischen Mentalität. Zunehmend entdecken wir, daß diejenigen Menschen, die sich Mobilität und Reisen leisten können, mit einer enormen Rücksichtslosigkeit durch das Land drängen - die Seiten zu Hefei und dem Huangshuan aus der Provinz Anhui stehen hier stellvertretend für ein alltägliches gesellschaftliches Drama, das sich all die tausende von Kilometern Landesfläche von Ost nach West und von Nord nach Süd abspielt: jeder will erst und muß ERST, ohne Rücksicht auf irgendjemand anders. Und das gilt beileibe nicht nur für das Verhalten in Menschenschlangen, nein: die gesamten Erscheinungsformen im Wirtschaftsgefüge sprechen diese Sprache, und das bis zu Ereignissen, die von äusserster Selbstbezogener Pervertiertheit zeugen - auch das in einer Form, die wir in Europa so nicht kennen. Zusammen mit dem Eindruck, daß die Menschen entweder schlafen oder auf Smartphones daddeln - aber sicher nicht das Land anschauen oder ihre Umgebung wahrnehmen (siehe zum Beispiel die Seite "Zugfahrt 2. Klasse" beziehungsweise die Abschnitte zum "Gesicht wahren" im Blogbeitrag Oktober und zum Selbstkult rund ums Foto auf der Huangshanseite), drängt sich mir als Ursache für diese Verhaltensmuster 2 Quellen auf, die ein anderer mal überprüfen kann:
Das Eine ist der Egoismus, der allen unseren Menschenbrüdern eigen ist und sich hier hinter der gesellschaftlichen Fassade von "Form und Gesicht wahren" (siehe zur Rolle des Status meinen Eintrag auf dem Reiseblog von 2012) ziemlich ungeschminkt auslebt (man darf halt nicht "gesehen" werden)- ich füge unten einen Abschnitt mit Beispielen ein.
Das Andere ist eventuell die Folge eines völlig verqueren Erziehungssystems, das den gesamten asiatischen Raum durchdringt und für mich persönlich der perfideste Nachklang des Kolonialismus ist: der Fokus auf dem Auswendiglernen unter Ausschaltung von Eigendenken und Verstand - was wahrlich kuriose Blüten treibt, die die Wirtschaftsleistung in China meines Erachtens nach wesentlich beeinträchtigen. Da aber die Wahrnehmung vor dem Denken steht, wenn man die Welt begreifen will - und diese ja systematisch ausgeschaltet wird bei derartigen, in China fast militärisch anmutenden Schulsystemen - kommt da am Ende eben ein Mensch bei raus, der mit sich und der Welt nichts anfangen kann (und sich folglich im Wesentlichen mit schoppen, daddeln, schlafen und essen beschäftigen wird), wenn er nicht zu den Spitzenstudenten mit hohem IQ gehört. (Die wiederum haben wir auch getroffen - und es ist die Menschengruppe, die uns die meiste Freude gemacht hat!!).
Vielleicht gehört es aber auch einfach zum Chinesischen Wesen, daß es sich um sich selber zentriert. Ob man das "Reich der Mitte" betrachtet, das nie wirklich expansiv war, die Art wie Hutongs gebaut werden - nämlich erst mal von der umschliessenden Aussenmauer her - oder eben die mangelnde Wahrnehmung der Aussenwelt: vielleicht kann man hier von einer Chinesischen Konstitution sprechen?
Auf die Kindererziehung möchte ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen, die ist ein Kapitel für sich. Interessanterweise mischt sich der Staat hier viel weniger ein als bei uns und es werden unter anderem Methoden hier offen und Kontrovers diskutiert, die bei uns zu unmittelbarem Kindesentzug von Seiten des Jugendamtes führen würden. Nicht nur in diesem Zusammenhang lohnt sich mal ein gelegentlicher Blick auf englischsprachige Nachrichtenseiten wie zum Beispiel "China Daily", deren Beiträge doch sehr viel über die Chinesische Sichtweise und das Chinesische Selbstverständnis zu ganz verschiedenen Themen verraten - und nicht in allem haben sie unrecht.
Nach vorne zu sind die Chinesen also mit ihrem Gesicht, ihrem Status beschäftigt - man könnte auch sagen: mit ihrer Verkleidung (die Blüten, die das treibt, kann man im Blogbeitrag Oktober bzw Reiseblog vom April 2012 nachlesen). Dahinter kommen Verhaltensweisen zum Vorschein, die im Wirtschaftsbereich ebenso allgemein verbreitet sind, aber nur in ihrer Extremsten Ausprägung gelegentlich mal internationale Wellen schlagen. Ich wiederhole hier einen Abschnitt, der schon im Blogbeitrag vom Oktober steht:
Ob es um gestrecktes und damit vergiftetes Milchpulver geht (und das im kindervernarrten China!!), Gift in Spielzeugen oder dem Fleisch toter (weil zuvor erkrankter) Schweine, das eine Bande zurück in den Nahrungsmittelkreislauf schleusen konnte (- irgendwann sind sie aufgeflogen und seither werfen die Bauern mangels anderer Möglichkeiten ihre verendeten Schweine in den Yangtsee... - überall zählt nur eines, nämlich der eigene Profit und das eigene Vorwärtskommen. Kinder werden angefahren und von Passanten und Autofahrern liegen gelassen - keiner hilft, was in China selber auch eine Diskussion zur Lage der Ethik in der Gesellschaft los tritt. (Chinas Gerichte können - je nachdem, wie einflussreich ein Straftäter ist - auch schon mal rigide werden: in einem Fall wird ein Missetäter gehängt (http://edition.cnn.com/2013/09/25/world/asia/china-baby-murder/index.html), in einem anderen Fall passiert erst mal gar nichts, weil der Bösewicht der Sohn des regionalen Polizeichefs ist - das aber rief nun wiederum die Gesellschaft auf den Plan, denn der Herr Sohn erklärte am Unfallort deutlich genug, wer er war. (http://www.globaltimes.cn/china/society/2011-01/618824.html bzw http://www.bbc.co.uk/news/mobile/world-asia-pacific-12317756 ). Kinder und Frauen werden entführt und der Landbevölkerung verkauft, die es sich leisten kann: zum einen werden im ländlichen Raum Jungen bevorzugt, zum anderen können - gerade aus diesem Grund - nicht mehr alle Männer eine Frau finden: es gibt schlicht nicht genug. Also kauft man sich eine, von der man genau weiß, daß sie entführt und gestohlen wurde (Kosten knapp unter 10 000€). China daily spricht davon, daß 2011 13000 Kinder und 23000 Frauen von der Polizei befreit werden konnten - und das ist also nur die Spitze des Eisberges (http://www.chinadaily.com.cn/china/2013-09/28/content_17001616.htm). Im Norden Vietnams wird gleichfalls gewildert, der Markt scheint groß. Kürzlich stand in den Schlagzeilen der Fall eines kleinen Jungen, der überfallen wurde und dem die Augen - bzw Teile davon - zur Transplantation für einen anderen Empfänger entnommen wurden. Das Kind wird ein Leben lang Blind bleiben.
Was soll man als Reisender dazu sagen, wenn man das System auch im kleinen überall beobachten kann? (Und man kann... - leider!). Mitspielen? Quer stellen? Ignorieren? Ich habe darauf keine Antwort gefunden. Diese Reise hat mich gestählt - eine Materialeigenschaft, die ich nicht unbedingt gesucht habe. Aber wie heißt es so schön: Sei vorsichtig mit dem, worum Du bittest - es könnte Dir gewährt werden. Nun - ich wollte das moderne China verstehen. Und jetzt stehe ich damit hier.
Bei den Hackern werde ich mich wohl bedanken müssen: sie haben mit ihrer Intervention zumindest dazu beigetragen, daß mir die Augen geöffnet wurden...